Von guten Mächten

Immer wieder bestätigen Menschen, dass für sie das Entscheidende an Dietrich Bonhoeffer weniger in seinen Schriften als vielmehr in seinem Lebenslauf zu finden ist. Genau genommen ist es wohl so, dass seinen Schriften deshalb bleibende Bedeutung zukommt, weil sie glaubwürdig sind – sie wurden beglaubigt durch das vorbildhafte Leben und Sterben ihres Autors. Deshalb ist das Interesse vor allem an seiner Biographie ungebrochen groß. Für Bonhoeffers Biographie aber ist es unerlässlich, seine Familie zu kennen, denn die Familie war die wichtigste Bezugsgröße in seinem Leben. Und dies galt nicht nur für ihn selbst, sondern für alle Familienmitglieder: Sie waren nicht nur Viele (ein großer Divisor, wie die Mutter bei der Verteilung von Leckereien zu bedenken gab), sondern sie pflegten einen starken inneren Zusammenhalt.

Und sie waren sich der Tatsache sehr bewusst, dass es dieses auf gemeinsamen Werten beruhende Zusammengehörigkeitsgefühl war, das ihnen – neben der von ihnen gelebten spezifischen Form des christlichen Glaubens – die Kraft zum Widerstand in schwersten Zeiten gegeben hat. Dies wird in dem wohl berühmtesten Text deutlich, den Dietrich Bonhoeffer hinterlassen hat – es ist zugleich der letzte Brief, den er aus dem Gestapo-Keller in der Prinz-Albrecht-Straße an seine Verlobte Maria von Wedemeyer schrieb. Das darin enthaltene Gedicht Von guten Mächten war seine Weihnachtsgabe und sein Abschiedsgeschenk für die Familie – und zugleich ein Vermächtnis, das die Weltchristenheit dankbar aufgenommen und bewahrt hat. Darin heißt es:

Dietrich Bonhoeffer

»Von guten Mächten treu und still umgeben
behütet und getröstet wunderbar, –
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr;

noch will das alte unsre Herzen quälen
noch drückt uns böser Tage schwere Last,
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das Du uns geschaffen hast.

Und reichst Du uns
den schweren Kelch, den bittern,
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus Deiner guten und geliebten Hand.

Doch willst Du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann woll'n wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört Dir unser Leben ganz.

Laß warm und hell die Kerzen heute flammen
die Du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen!
Wir wissen es, Dein Licht scheint in der Nacht.

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so laß uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all Deiner Kinder hohen Lobgesang.

Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiß an jedem neuen Tag.«

Dietrich Bonhoeffer

Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung (Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 8), Gütersloh 2015 [Erstveröffentlichung 1951], S. 607 f.

Dieser Text ist vielen Menschen in seiner Vertonung als Lied vertraut, und wenn sie es (etwa bei einer Hochzeit oder Beerdigung oder im Silvester-Gottesdienst) singen, dann denken sie bei den guten Mächten wahrscheinlich an Engel oder an Gottes tröstenden Schutz. Was Dietrich Bonhoeffer selbst mit diesen guten Mächten im Sinn hatte, beschreibt er seiner Braut in dem beigefügten Brief vom 19. Dezember 1944:

Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat.

Bonhoeffer, Dietrich/Wedemeyer, Maria von: Brautbriefe Zelle 92, Hg. v. Bismarck, Ruth-Alice/Kabitz, Ulrich, München 2006, S. 208.

Schon früher hatte Dietrich Bonhoeffer aus dem Gefängnis in Tegel an seine Eltern Ähnliches geschrieben:

Liebe Eltern! Wenn am Sonnabend abends um 6 Uhr die Glocken der Gefängniskirche zu läuten anfangen, dann ist das der schönste Augenblick, um nach Hause zu schreiben. Es ist merkwürdig, was für eine Gewalt die Glocken über den Menschen haben und wie eindringlich sie sein können. Es verbindet sich so vieles aus dem Leben mit ihnen. Alles Unzufriedene, Undankbare, Selbstsüchtige schwindet dahin. Es sind lauter gute Erinnerungen, von denen man auf einmal als von guten Geistern umgeben ist.

Brief von Dietrich Bonhoeffer an Karl und Paula Bonhoeffer vom 3. Juli 1943. In: Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, S. 109. Vgl. auch ebd., S. 152, S. 157 f. und S. 172.

Und ein Jahr, bevor er das Gedicht Von guten Mächten verfasste, in seinem Weihnachtsbrief vom 17. Dezember 1943, schrieb Bonhoeffer an seine Eltern:

Dass es nun aber auch Euch, Maria und den Geschwistern und Freunden nicht erspart bleibt, mich Weihnachten im Gefängnis zu wissen, und dass damit über die wenigen fröhlichen Stunden, die Euch in dieser Zeit noch geblieben sind, ein Schatten fallen soll, das kann ich nur dadurch verwinden, dass ich glaube und weiß, dass ihr nicht anders denken werdet als ich und dass wir in unserer Haltung angesichts dieses Weihnachtsfestes einig sind; und das kann schon darum gar nicht anders sein, weil ja diese Haltung nur ein geistiges Erbstück von Euch ist. […] In solchen Zeiten erweist es sich eigentlich erst, was es bedeutet, eine Vergangenheit und ein inneres Erbe zu besitzen, das von dem Wandel der Zeiten und Zufälle unabhängig ist. Das Bewusstsein, von einer geistigen Überlieferung, die durch Jahrhunderte reicht, getragen zu sein, gibt einem allen vorübergehenden Bedrängnissen gegenüber das sichere Gefühl der Geborgenheit. Ich glaube, wer sich im Besitze solcher Kraftreserven weiß, braucht sich auch weicherer Gefühle, die meiner Meinung nach doch zu den besseren und edleren der Menschen gehören, nicht zu schämen, wenn die Erinnerung an eine gute und reiche Vergangenheit sie hervorruft. Überwältigen werden sie denjenigen nicht, der an den Werten festhält, die ihm kein Mensch nehmen kann.

Brief von Dietrich Bonhoeffer an Karl und Paula Bonhoeffer vom 17. Dezember 1943. In: Ebd., S. 240.

Die Überzeugungen, welche Dietrich Bonhoeffer in seinem Handeln leiteten, waren ihm also durch die Familie vermittelt worden – auch deshalb ist es so aufschlussreich, mehr über das Familienleben der Bonhoeffers zu erfahren. Die Aufzeichnungen seiner Schwester Susanne leisten hierzu einen einzigartigen Beitrag. Doch vor allem haben ihre Betrachtungen Eigenwert. Sie dienen nicht nur der Ergänzung oder gar Bestätigung von Mitteilungen über Dietrich Bonhoeffer. Auch wenn die Verfasserin keine geborene Bonhoeffer wäre, sondern einfach Susanne Schmidt hieße, wäre diese Lebensgeschichte unbedingt lesenswert. Deshalb wird sie hier bewusst unter dem Namen Susanne Dreß veröffentlicht – denn dies ist der Name, den die Verfasserin trug, als sie ihre Biographie niederschrieb. Auf die nachträgliche Konstruktion eines Doppelnamens (wie bei den beiden Büchern ihrer Schwester Sabine, die unter dem Namen Leibholz-Bonhoeffer erschienen sind) wurde verzichtet. Möge die Lektüre den Leserinnen und Lesern etwas von jener Welt von gestern erschließen, die zwar unwiederbringlich verloren gegangen ist, aber zugleich fortwirkt in der Erinnerung.

Gnadenthal, März 2018
Jutta Koslowski

Taufe von Susanne Dress
Aus dem Leben der Familie Bonhoeffer

Aus dem Leben der Familie Bonhoeffer

Auf zwei Dinge kam es mir an: absolute Ehrlichkeit und kein Heldenepos daraus zu machen. (Susanne Dreß)

Mehr als siebzig Jahre nach seinem Tod gibt es bei Dietrich Bonhoeffer Neues zu entdecken! Seine jüngste Schwester Susanne Dreß hat ihre Lebenserinnerungen aufgezeichnet: Von der Kindheit im Kaiserreich über den Ersten Weltkrieg und die Räterepublik bis zum Nazi-Regime und die Zeit des Wiederaufbaus reicht ihre Biographie und spiegelt die enormen Wandlungen wider, welche sich in diesem Zeitraum vollzogen haben. In einem eigenwilligen und höchst anschaulichen Stil stellt Susanne Dreß die großbürgerliche Familie vor Augen, der Bonhoeffer entstammte. Das vertraute Bild erhält so viele neue, unbekannte Nuancen. Ein Dokument von großem zeitgeschichtlichen Wert und zugleich eine fesselnde Lektüre.

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Dietrich Bonhoeffer

Dietrich Bonhoeffer war ein lutherischer Theologe, profilierter Vertreter der Bekennenden Kirche und am deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt.

Als gegenüber seinen Lehrern eigenständiger Theologe betonte Bonhoeffer die Gegenwart Jesu Christi in der weltweiten Gemeinschaft der Christen, die Bedeutung der Bergpredigt und Nachfolge Jesu und die Übereinstimmung von Glauben und Handeln, die er persönlich vorlebte, insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus. In seinen Gefängnisbriefen entwickelte er einflussreiche, wenn auch fragmentarische Gedanken für eine künftige Ausrichtung der Kirche nach außen in Solidarität mit den Bedürftigen und zu einer nichtreligiösen Interpretation von Bibel, kirchlicher Tradition und Gottesdienst.

Dietrich Bonhoeffer

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